Auslandskorrespondent aus der eigenen Jugend

Samstag ist Reportagentag auf den Auslandsseiten im “Luxemburger Wort”, der Zeitung, für die ich seit sechs Jahren als Onliner arbeite. Das heißt, im Politikteil berichten Korrespondenten aus dem weiten und nahen Ausland über alles Mögliche – zuletzt aus Litauen, oder aus Brandenburg vom neuen Tesla-Werk, aber auch von einem Roma-Ghetto in Süditalien.

Für das vergangene Wochenende war noch nichts Genaues festgelegt, als mein Kollege Michael Merten mich fragte, ob wir aus Saarlouis über die spektakuläre Wende im Mordfall Samuel Yeboah berichten wollten. Sprich, nicht nur nachrichtlich verkünden, dass nach mehr als 30 Jahren ein tatverdächtiger Neonazi festgenommen wurde, sondern näher dran und tiefer rein. Wir könnten in der Print-Version die Auslands-Doppelseite haben, online dürfe es ein sogenannter “longread” werden – ein langes Stück mit vielen Fotos.

(Abkürzung: Wurde es dann auch, es heißt “Den Namen pfeifen in Saarlouis die Spatzen von den Dächern“.)

Okay, dachte ich. Bis nach Saarlouis sind es von Luxemburg etwa 50 Kilometer, aber schließlich ist eine Grenze dazwischen. Ausland genug. Ich bin im Thema, hatte schon vor einem Jahr was dazu geschrieben, dass der Fall wieder aufgerollt würde und halb Saarlouis den Täter kennt. Also fuhren wir an einem Mittwoch ins Saarland, um Leute zu treffen, die sich zum Teil fast seit dem Tattag mit dem Fall, einem rassistisch-rechtsextrem motivierten Mordanschlag, beschäftigen.

Erst unterwegs wurde mir klar, dass ich mit dieser Recherche nicht nur zum Auslandskorrespondenten, sondern auch zum Berichterstatter aus meiner eigenen Vergangenheit wurde. Dass ich deswegen im Thema bin, weil Samuel Yeboah zu einer Zeit an einem Ort starb, die in gewisser Weise meine Zeit und mein Ort sind.

Ich bin jetzt 45 und im Landkreis Saarlouis aufgewachsen. Als die Mauer fiel, weit weg, war ich zwölf, als Samuel Yeboah starb, sehr nah, war ich 14. Der aufkommende Rassismus (“Fremdenhass” oder “Ausländerhass” sagte man damals noch dazu) aus der Nachwendezeit fiel genau in die Phase, in der ich mich für Politik zu interessieren begann. Das übrigens kirchlich organisiert, als Teil einer örtlichen Gruppe der “Christlichen Arbeiterjugend” – obwohl ich von deren drei titelgebenden Attributen streng genommen nur eines so richtig erfüllte.

Bei der CAJ war Rassismus ein Thema, das wir gründlich beackerten. Ich erinnere mich an sehr viel inhaltliche Arbeit, an viele Veranstaltungen “gegen rechts”, gefühlt fast jedes Wochenende. An Aufkleber mit Slogans wie “Mein Freund ist Ausländer”, “Enjoy your neighbour’s culture” oder “Mach meinen Kumpel nicht an”. Lebhaft an die riesige Demo kurz nach dem 19. September 1991 in Saarbrücken mit angeblich 20.000 Teilnehmern. An ein Soli-Konzert gegen Ausländerhass mit meiner ersten Band 1993 im Hof des Saarlouiser Orannaheims – einer Asylbewerberunterkunft, in der im Jahr zuvor eine Rohrbombe noch rechtzeitig entdeckt worden war. Den Bewohner*innen war unser Auftritt recht egal, Abwechslung schien zwar willkommen, manche wirkten aber auch schlicht genervt.

Dass man gegen Nazis war, war Konsens. Allerdings war das ganze Thema, so präsent es auch war, in meinem Umfeld eher theoretisch vorhanden. Ich kannte keine Geflüchteten in Heimen. Und auch keine Skinheads. Dass in den Stadtparks in Saarlouis und Dillingen mitunter das Faustrecht regierte, wusste ich aus Erzählungen. Skinheads waren für mich so eine Art Comic-Schurken, ein bisschen wie die Daltons, aber gefährlicher. An dieser Vorstellung änderte auch das Schulhof-Gerücht nichts, dass sie angeblich einem Dillinger Skater “mit einer Rasierklinge die Mundwinkel aufgeschnitten und ihm sein Skateboard zu fressen gegeben” hätten. Skater kannte ich auch kaum welche.

Auf der Recherchetour in Saarlouis habe ich dann Leute getroffen, für die Rechtsextremismus überhaupt nichts Theoretisches, sondern etwas sehr Praktisches war. Einen der Interviewpartner kenne ich seit dem Kindergarten, irgendwann mit 16 oder 17 trennten sich die Wege. Wir haben uns bestimmt 20 Jahre nicht gesehen. Ich wusste, dass er damals einer von den Stadtpark-Punks war, aber nicht genau, was das bedeutete. Als er von den frühen Neunzigern in Saarlouis erzählt, fallen die Worte “Straßenterror”, “Übergriffe” und “täglich”. Mit Arbeitskreisen, Benefizkonzerten und hübschen Slogans hatte das wenig zu tun.

Die zwei Gesichter von Saarlouis

Es ist nicht so, als sei ich vergangene Woche zum ersten Mal “seit damals” wieder in Saarlouis gewesen, oder nach Jahrzehnten in der Fremde “nach Hause gekommen”. Das Gegenteil ist der Fall, ich bin noch oft in Saarlouis und Umgebung – sogar erst in der Woche davor zu einer Familienfeier in einem Restaurant in der Altstadt. Aber als wir uns nach den ausführlichen Gesprächen in der Stadt auf die Spurensuche nach Samuel Yeboah und den Neonazis machen, wirkt Saarlouis auf mich komplett anders als sonst.

Man darf in solchen Situationen nicht das Reportageziel aus den Augen verlieren, aber auch nicht an jeder Ecke zu finden versuchen. Und sollte auch der Versuchung widerstehen, ein bestimmtes Narrativ, in diesem Fall das von Saarlouis als rechtsextremistischer Hochburg, ungefiltert in die Story zu packen. Denn man wird mit dem entsprechenden Hintergrund im Hinterkopf an jeder Ecke Symbole sehen.

Was uns in Saarlouis aber an Symbolik entgegenschlug, war schon bemerkenswert. Am Großen Markt klebt direkt vor der Touristinfo ein rechter Slogan an einem Laternenmast: “Heimatrecht ist Menschenrecht, auch für uns Deutsche”. Ein Spruch, der direkt aus dem Jahr 1991 stammen könnte, aber der Aufkleber ist neu.

Der mutmaßliche Täter Peter Werner S. traf sich am Tatabend mit zwei weiteren Nazis nicht irgendwo, sondern im “Bayerischen Hof”, in der Adlerstraße. Die Kneipe gibt es nicht mehr, an der Stelle, wo sie sich befand, wird grade renoviert. Die Adlerstraße führt vom Großen Markt rechts am Rathaus vorbei und ist nicht sehr breit, wer aus der Kneipentür drei Schritte über die Straße macht, berührt fast die Rathauswand. Bemerkenswert für eine Stadt, deren Oberhäupter – übrigens von SPD und CDU – sich in den vergangenen 30 Jahren durch das Wegreden einer organisierten rechten Szene hervortaten.

Samuel Yeboah liegt auf dem Friedhof “Neue Welt” in Saarlouis-Picard begraben. Warum der Friedhof bzw. das umliegende Stadtviertel so heißt, ist – zumindest mir – nicht ganz klar. Aber man muss sich schon aktiv ermahnen, keinen Zusammenhang zu Yeboahs versuchtem Neuanfang in Saarlouis und seinem brutalen Ende in seiner neuen Welt herzustellen. Am Grab selbst fällt auf, dass es das einzige in der Reihe ist, vielleicht liegt das aber auch daran, dass die Frist zur Einebnung aufgehoben wurde. Die Urnengräber in der Reihe gegenüber wirken ungepflegt, tragen zum Teil schon den roten Aufkleber, dass sie zur Einebnung vorgesehen sind. Vielleicht ist es also nur eine Momentaufnahme, die es so wirken lässt, als gehöre Yeboah nicht dazu – aber an diesem Mittwoch sieht es tatsächlich so aus.

Nazis und Nationalchauvinismus

Überbordend ist die Symbolik dann im “Löwenpark”, und das ist natürlich Absicht. Die Grünanlage heißt eigentlich “Ludwigspark”, zu Ehren Ludwigs XIV., der die Festung Sarre-Louis 1680 von seinem Baumeister Vauban errichten ließ. Der Löwenpark ist deutlich kleiner als der Stadtgarten, nur zwei Steinwürfe entfernt vom damaligen freien Kulturzentrum KOMM im alten Betriebshof und der linken Kneipe “Café Wichtig”, trafen sich hier die Saarlouiser Skinheads und duldeten neben sich keine anderen Subkulturen, so erzählen es zumindest die Zeitzeugen.

Für den Spitznamen des Parks verantwortlich ist eines der heftigsten nationalchauvinistischen Kriegerdenkmäler, das ich jemals irgendwo gesehen habe: ein brüllender Bronze-Löwe zu Ehren der Gefallenen des Rheinischen Feldartillerieregiments von Holtzendorff. Das Denkmal steht seit den 1920ern, der Löwe ist eine Nachbildung des Originals, das womöglich im Zweiten Weltkrieg eingeschmolzen wurde, um neue Kanonen zu produzieren. Dass man 1958 nichts Besseres zu tun hatte, als einfach einen neuen Löwen mit unveränderter Aussage zu gießen, spricht für sich. Die umlaufende Schrift lautet “Den gefallenen Kameraden in Deutschlands Heldenkampf” darunter sind Schlachtorte aus dem Ersten Weltkrieg aufgezählt. Man braucht nicht viel Fantasie, um zu verstehen, warum die Nazis sich lieber hier betrunken haben als woanders.

Wir verlassen Saarlouis und machen uns ans Schreiben. Wir haben beide den Schreibtisch ziemlich voll, dieser Job ist eingeschoben, weil wir eine Gelegenheit nutzen wollten. Mit der Ausbeute des Tages in Saarlouis und Dillingen sind wir zufrieden, dennoch bin ich nachdenklich, ob es ausreicht. Bei jedem längeren Text, den man für eine Veröffentlichung schreibt, vor allem bei denen mit einer gewissen Faktentiefe, schluckt man eine Unmenge an Informationen in sich hinein, die man im Kopf so gut wie möglich unter Kontrolle zu halten versucht, bevor man sie in kondensierter, getrimmter Form wieder von sich gibt. Zur Deadline ist man fertig, im Idealfall. Aber trotz professioneller Distanz gibt es Geschichten, die einem noch ein paar Tage nachhängen. Zu denen gehört diese hier.

Mehr dazu:

Ein Wort zur Paywall:

Ja, meine/unsere Texte hinter den Links kosten Geld. Unser Arbeitgeber bezahlt uns auch dann, wenn wir einen ganzen Tag in Saarlouis rumhängen und über alte Geschichten reden. Und dann noch einen Tag brauchen, um all das aufzuschreiben. Nein, leider kann man die Artikel nicht einzeln kaufen. Das wäre mir beim Verlinken manchmal auch lieber, auch ich habe nicht immer Lust, gleich ein Abo abzuschließen. Aber ich entscheide das nicht.

Vinylismus #01 – Vince Weber: The Boogie Man

Was für ein unverhofftes, aber freudiges Wiedersehen: Nach Ewigkeiten mal wieder beim Trier-Süder Textilveredler des Vertrauens vorbeigeschaut, dort festgestellt, dass Hong jetzt ein wunderschön sortiertes Second-Hand-Plattenregal hat. Und in der ersten Reihe steht mit Vince Weber ein alter Bekannter, dessen Debut “The Boogie Man” ich heute noch auswendig kenne, obwohl unser erstes Aufeinandertreffen locker 30 Jahre her ist.

Irgendwann Anfang der neunziger stand dieses Cover mit der Zeichnung des schnauzbärtigen jungen Mannes mit der spektakulären Frisur bei uns zu Hause rum. Ausgeliehen vom Freund meiner großen Schwester, dessen Musikgeschmack exzellent war. Ich legte sie auf – und war einigermaßen verloren. “Piano Blues and Boogie Woogie” lautet der Untertitel, und genau das gibt es hier – reichlich und unverschnitten. Ein Mann und ein Klavier. Sonst nix.

Vince Weber war mein Türöffner für den Blues. Er brachte einen extremen Punch auf die Klaviatur, rauh und verspielt, roh und dabei doch filigran. Dazu sang er schlecht verständliches Englisch-Kauderwelsch mit deutschem Einschlag – mit einer Stimme, die für einen 22-Jährigen viel zu alt und weise und für einen Mann ein bisschen zu hoch klang. Und die, genau wie sein Klavierspiel, die “blue notes” so perfekt traf, als käme er nicht aus Hamburg, sondern straight aus Chicago. Für den 13-Jährigen, der sich seit einer Anzahl Jahren nur mäßig motiviert durch den Klavierunterricht geschleppt hatte, weil er ums Verrecken keine Noten lesen konnte, war diese Platte das sprichwörtliche schwarze Gold.

Praxis statt Theorie

Das Problem mit dem Notenlesen hatte ich – ohne es damals zu wissen – mit Vince gemeinsam, der über seinen ersten Klavierunterricht sagte: “Habe leider wenig begriffen, hatte aber zwei Ohren.” Den Dreck in der Stimme und auf den Tasten holte er sich statt im Unterricht dann schon mit 16 bei regelmäßigen Gigs in Hamburger Kneipen, wo er nach einiger Zeit niemand anderem als Otto Waalkes begegnete. Der nahm ihn erst als opening act mit auf Tournee, brachte dann das vorliegende Debutalbum auf seinem Label “Rüssl Räckords” heraus – und steuerte obendrauf noch das charakteristische Porträt auf dem Cover bei. Eine erfolgreiche Mischung: “The Boogie Man” erhielt 1976 den Deutschen Schallplattenpreis.

Die Platte, zum Teil live aufgenommen in der Hamburger “Fabrik”, atmet in mehrfacher Hinsicht deutsches Zeitkolorit: Das Blues-Revival der sechziger und siebziger. Die ersten Otto-Bühnenprogramme. Der “Preis der deutschen Schallplattenkritik”. Wer “The Boogie Man” mit Kopfhörer hört, wird Zeuge leiser Kneipengespräche im Hintergrund – und kann sich die Menschen dazu vorstellen, Parkas, Schlaghosen, lange Haare, Bärte, Drehtabak und Turnschuhe. Die Musik dazu ist vordergründig unpolitisch, es geht wie so oft in Blues und Boogie ums Saufen, Feiern, Vögeln, Lieben und Leiden. Und doch ist die ganze Nummer natürlich extrem durchpolitisiert: Auf der Bühne sitzt ein junger Weißer mit Afro und verprügelt den Flügel, das Symbol des bürgerlich-kultivierten schlechthin, mit den Songs des schwarzen Tagelöhners.

Diese Gedanken habe ich mir damals nicht gemacht. Aber nach Vince Weber kam noch viel schwarze Klaviermusik in mein musikalisches Koordinatensystem. Albert Ammons, Meade Lux Lewis, Pete Johnson. Memphis Slim.

Der große Art Tatum. (Übrigens ein weiterer Kronzeuge, den ich meinem Klavierlehrer vorführte, im Bestreben, ums Notenlesen herum zu kommen – Tatum war fast blind. Es nutzte mir nichts.)

Und, als Brücke zwischen schwarz und weiß, gewissermaßen, Jacques Loussier mit seinem “Play Bach”.

Wie ich einen Anruf von Vince Weber verpasste

Mit Vince Weber und mir ging es allerdings noch weiter: Als es sich 2006 abzeichnete, dass ich an der Programmplanung für einen Trierer Veranstaltungsraum mit Flügel beteiligt sein würde, ging eine der ersten Emails, die ich schrieb, an ihn. Ob er Interesse hätte, bei uns aufzutreten. Seinen eventuellen Rückruf habe ich dann knapp verpasst – angeblich hatte ein Herr Weber angerufen, als ich gerade nicht da war. Es hätte mich sehr gefreut, aber ich erreichte ihn nicht mehr und so wurde schlussendlich nichts draus. Klavier wurde in dem Laden dann trotzdem sehr viel gespielt. Gottseidank.

Nachdem ich diese frühe Lieblngsplatte dann also für den fairen Preis von 8 Euro bei Hong erworben und nach Hause getragen hatte, machte ich mich daran, das Internet zu fragen, was Vince Weber heute so treibt. Ich wusste sehr vage, dass er seit einiger Zeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr auftreten konnte. Ich fand heraus, dass sich das leider auch nicht mehr ändern wird: Weber starb am 23. Februar 2020 im Alter von 66 Jahren.  Danke für alles, Boogie Man.

Vince Weber: The Boogie Man (1975).
Rüssl Räckords / EMI Electrola
Gekauft bei Hong, 8 Euro.

Nachdenken über Eddie Van Halen

Mir fällt, wie so oft, beim Schreiben seines Nachrufes grade erst auf, wie wichtig Eddie Van Halen ganz offensichtlich wirklich war. Denn es passiert nicht jede Woche (gottseidank), dass meine halbe Timeline, also die “Musikerblase”, auf Facebook quasi simultan Trauer trägt.
An mir selbst sind Van Halen immer ein bisschen vorbeigegangen (“Jump” finde ich trotz aller Ausgelutschtheit allerdings immer noch einen auf seine Art coolen Song). Ich habe sie 1998 in der “Gary -Cherone-Phase” noch am Ring gesehen, aber da haben wir alle nur auf Ozzy gewartet und dazwischen kam auch noch Rammstein und ein sintflutartiger Regen…

 

Um dieses Phänomen Van Halen zu verstehen, muss man vielleicht auch eher in die USA schauen – dieses total überdrehte, gutgelaunte Hair-Metal-Ding, das eine ganze Generation dort zusammengeschweißt hat, das “Soundtrack of our Youth”-Klischee und die berühmte Anekdote mit den braunen M&Ms in der Schüssel in der Garderobe. Dass zwei Einwanderer-Kids aus Holland (“Wir hatten 50 Dollar und ein Klavier und wir konnten die Sprache nicht”, hat Eddie mal rückblickend gesagt) zu Lebzeiten in nur wenigen Jahren diesen Legendenstatus erreichen können – das ist schon sehr amerikanisch. Und Eddie Van Halens Einfluss stammt zu mindestens gleich großen Teilen aus der (Weißen!) Jugendkultur wie aus seinem – exzellenten – Gitarrespiel, bei dem erstmal jahrelang keiner wusste, was der da eigentlich macht und wie. Das erinnert an Hendrix und der Vergleich ist sicher nicht total daneben.

Wally Farkas, ein in Sachen Rockgeschichte erstklassig kompetenter Gitarrist aus Texas (dem Ihr übrigens auf Facebook folgen solltet), hat es auf den Punkt gebracht. “Als er die Szene betreten hat, war das ein Weckruf an alle anderen Gitarristen, an ihrer Technik zu arbeiten – oder zurückzubleiben.”

In diesem Sinne: RIP, Eddie. Im Schrank ist vielleicht noch eine Tüte M&M’s.

 

Foto: Anthony Catalano via Flickr under CC BY-NC-SA 2.0.

“In den seidenen Gardinen rauschte es geheimnißvoll”

“The Raven” von Edgar Allan Poe und die deutsche Version von Anna Vivanti-Lindau

“The Raven” von Edgar Allan Poe ist einer dieser Texte, die sich eingraben. Seit ich den Raben so ungefähr mit 17 zum ersten Mal wahrgenommen habe, wollte ich ihn auswendig lernen, alle 18 Strophen, alle 108 Zeilen. Weil es nichts weniger als ein perfekt verarbeitetes Gedicht ist. Und weil ich dachte und noch denke, dass es sich lohnt, sich damit zu beschäftigen. Über die ersten drei Strophen und dann noch einige Bruchstücke bin ich zwar – bisher – nie wirklich hinausgekommen. Diese Passagen aber sitzen sehr tief drin.

Once upon a midnight dreary, while I pondered weak and weary,
over many a quaint and curious volume of forgotten lore…

Die Handlung ist mir dabei eigentlich immer recht egal gewesen. Sie ist auch, wie so einiges von Poe, nicht sehr gut gealtert: Ein – natürlich schwermütiger – Mann, der nachts ein Geräusch hört und einen Raben vor seiner Tür findet, der sich bei ihm einnistet und ihm, so empfindet es der Mann, Nachricht aus dem Totenreich von seiner verstorbenen Geliebten, Lenore, bringt. Er wird sie nie mehr, oder wie der Rabe sagt, „Nimmermehr“ wiedersehen. Woraufhin der Mann – natürlich – noch schwermütiger wird.

Man mag es autobiographisch ausdeuten: Poes Mutter Eliza starb als Edgar knapp drei Jahre alt war. Seine viel zu junge (und viel zu nah mit ihm verwandte) Frau Virginia war bereits seit Jahren schwer krank, als „Der Rabe“ entstand. Virginia war Poes Cousine, er hatte sie 27-jährig geheiratet, als sie 13 Jahre alt war. Sie starb am 30. Januar 1847, also fast auf den Tag genau zwei Jahre nach dem „Raben“, an Tuberkulose. Ihre jahrelang angegriffene Gesundheit trieb Poe zum Alkohol und ihr Tod wohl auch zum Opium, wobei ungeklärt bleibt, ob er als süchtig nach einem der beiden bezeichnet werden kann.

Ob die Vorbilder für die „Lost Lenore“ nun aus seinem eigenen Leben stammen oder nicht: Das Thema des Gedichts habe er gewählt, so Poe, weil „der Tod einer wunderschönen Frau fraglos das poetischste Thema der Welt“ sei. Der „Rabe“ sollte ein Experiment sein, das laut Poe „den Geschmack der Masse und den der Kritiker gleichermaßen“ treffen sollte. Das gelang ihm sicher.

Großartige Schockwirkung vermag die Story vom Vogel mit dem begrenzten Wortschatz im 20. bzw. 21. Jahrhundert nicht mehr zu entfalten – sprechende Raben gibt es mittlerweile schon im Kinderfernsehen. Aber: Der Sound. Der Rhythmus. Der Binnenreim, den Poe bis zum Äußersten ausreizt: still the beating … stood repeating … visitor entreating – surely that is… window lattice … what thereat is – shorn and shaven … sure no craven … stately raven.

Die Alliterationen, die durch die Strophen rollen: Deep into that darkness peering, long I stood there, wondering, fearing, dreaming dreams no mortal ever dreamed to dream before.

Das Tempo, das der Autor perfekt kontrolliert – anders als die meisten Vortragenden auf den Aufnahmen, die man so findet, übrigens: Die meisten lesen zu langsam. Damit Poes Konstruktion ihren speziellen Groove entfaltet, braucht es aber eine gewisse Geschwindigkeit.

Zum Geburtstag des Raben ein Leporello

Kurzum: Ich mag dieses Gedicht sehr. Und es war mir daher eine überaus große Freude, mich zusammen mit der tollen Grafikerin Anna Markfort (Offenlegung: Sie ist meine Frau.) um eine illustrierte Leporello-Auflage zu kümmern, die mittlerweile in Annas online-Shop halberhahn.com erhältlich ist. Es hat großen Spaß gemacht, den Raben dazu nochmal, wieder und wieder, auf mögliche Besonderheiten abzuklopfen, die sich im Endprodukt wiederspiegeln sollten. Und vor allem, aus zahlreichen verfügbaren Übersetzungen die eine auszusuchen, die am Treffendsten erscheint.

Vor ziemlich genau 175 Jahren, erschien der Rabe zum ersten Mal. Poe, zeitlebens chronisch unterbezahlt, hatte das Werk mehrfach verkauft: zuerst für 9 Dollar (etwa 300 Dollar in heutiger Währung) an das Magazin „American Review“, das es aber erst im Februar 1845 abdruckte; und als Vorabkopie an den „Evening Mirror“, wo der „Rabe“ bereits am 29. Januar 1845 erschien – sein erster Auftritt auf der literarischen Bühne. Zahlreiche weitere Veröffentlichungen quer durch die Verienigten Staaten folgten, die zwar Poes Bekanntheit weiter steigerten, an seiner finanziell prekären Situation jedoch nichts änderten. Ein Gedichtband des durch den Raben landesweit bekannten Dichters wurde nachgeschoben. Die Leser der vierziger und fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts wollten Poe und seine Schwermut. Den “Ohrwurm der amerikanischen Lyrik” nennt Literaturkritiker Denis Scheck den Raben. Poe hatte einen Hit gelandet – sehr viel später kam sein Vogel sogar bei den Simpsons vor. Nur reich wurde er damit mal wieder nicht.

Was auch folgte: Eine ganze Reihe an Übersetzungen weltweit. Auch in Deutschland scheint es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beliebter Salonsport gewesen zu sein, den Raben ins Deutsche zu übertragen. Wikisource weist 13 Übersetzungen zwischen 1853 und 1908 aus – von Menschen mit klangvollen Namen wie Elise von Hohenhausen über Carl Theodor Eben über Betty Jacobson bis zu Theodor Etzel. Es sind wunderschöne Texte, denen man leider aber zum Teil die Mühe anmerkt, die es gekostet haben muss, einen englischen Text vom Kaliber Edgar Allan Poe in die eigene Spache zu ziehen. Eine Version sticht dabei heraus, aus verschiedenen Gründen: Anna Vivanti-Lindau kommt 1878 nah genug ans Original, geht aber selbstbewusst zu Werke: Sie gibt zum Beispiel Poes strenges Versmaß (den achthebigen Trochäus) und sein markantes Reimschema (ABCBBB) auf. Und auch – leider – den Binnenreim. Aber sie klingt dabei moderner und deutlich müheloser als die anderen Übersetzer ihrer Zeit. 

Und ich raffte mich zusammen, öffnete die Thür und rief:
„Werther Herr, verehrte Dame, o! verzeih’n Sie mir, ich schlief.
Deshalb glaubt’ ich kaum, es käme Jemand noch so spät zu mir,
Denn Sie klopften gar so leise, gar so leis’ an meine Thür.“
Suchend blickt’ ich in das Dunkel, aber Alles öd’ und leer, –
Tiefe Stille – sonst nichts mehr.

Klare Worte statt Bildungsdünkel

Das liegt zum Beispiel auch daran, dass Vivanti-Lindau den Text an den richtigen Stellen “entmythifiziert”: Zwar kann man sie sicher als Bildungsbürgerin bezeichnen. Aber wo Poe großen Wert auf seine klassische Bildung legt, seine Anspielungen auf die giechische Sagenwelt prominent platziert, verwendet Vivanti-Lindau klare Begriffe: Was im Original “Nepenthe” heißt, ein mythologisches Heilmittel, quasi ein Antidepressivum aus Homers Odyssee, ist bei Vivanti-Lindau schlicht “die süße Labe”. Und Poes Frage “Is there Balm in Gilead”, eine mit biblischen Metaphern verklausuliert ausgedrückte Hoffnung darauf, dass in der Nachwelt alles besser wird, lautet bei ihr “Heilt das Jenseits uns’re Wunden?”. Sie tut, was eine mutige Übersetzerin tun muss: Sie macht das Original zugänglich.

Wegen dieser “umstandsloseren” Sprache steht die Übersetzung auf der Rückseite von Annas Leporello in nachtblau (statt schwarz) vor einer modernen Häuserreihe, anstatt vor einem klassizistischen Gründerzeit-Prachtbau (was, zumindest autobiographisch, sowieso nicht gestimmt hätte – Poes Behausungen waren eher ärmlich). Der Rest bleibt im Dunkeln, und auch das gefällt mir gut: In einem der Bungalows brennt Licht im ersten Stock und wir können nur vermuten, was dort gerade passiert.

Über die Frau, der wir diese schöne deutsche Version verdanken, wissen wir übrigens deutlich weniger als über den Schöpfer des Raben: Anna Vivanti-Lindau, so erzählt es Wikisource, hat neben dem “Raven” noch ein Gedicht von Geoffrey Chaucer ins Deutsche übertragen und eine Novelle geschrieben. Ihr Leben müssen wir uns wohl als recht bewegt vorstellen: Sie war mit dem italienischen Seidenhändler Anselmo Vivanti verheiratet, der aus politischen Gründen erst in London und später in den USA Asyl fand. Ihre Tochter Annie Vivanti, in London geboren, hat als Literatin eine längere Werkliste vorzuweisen als ihre Mutter, setzte sich mit ihrem Eheman John Chartres für die irische Unabhängigkeit ein und unterstützte, trotz jüdischer Abstammung, die italienischen Faschisten um Benito Mussolini.

Anna Vivanti-Lindau starb 1880. Ich habe mich sehr gefreut, ihre Version des “Raben” zu finden, zu verstehen und für eine kleine, aber feine Neuveröffentlichung auszuwählen.

Die fünf besten Rollen von Terry Jones in “Monty Python’s Flying Circus”

Terry Jones (1942 – 2020), Gründungsmitglied, Autor, Schauspieler und Regisseur bei Monty Python, spielte selten Hauptrollen. Aber seine Nebenrollen ließen seine Kollegen zu komödiantischer Hochform auflaufen. Warum das so ist, ist schwer zu sagen – sah er so unschuldig aus? So seriös? So normal?

Hier die – subjektiv ausgewählten – Top 5 seiner komischsten Auftritte. 

  • Nummer 5: Der schmierige Süßwarenfabrikant, der Pralinen äußerst zweifelhafter Zusammensetzung verkauft, zum Beispiel den “Crunchy Frog” (“If we took the bones out, it wouldn’t be crunchy anymore now, would it?”).

  • Nummer 4:  Der biedere Biertrinker mit Bowlerhut, der im Pub von Nervensäge Eric Idle (“Evenin’ squire!”) auf diverse Qualitäten seiner Frau (“Is your wife a goer? Does she go? Eh? Eh?”) angesprochen wird, was er pikiert quittiert (“Are you insinuating something?”).

  • Nummer 3: Karl Marx in “Communist Quiz”, der leider die Frage des Quizmasters (Eric Idle) nicht beantworten kann, welches englische Fußballteam den Spitznamen “The Hammers” trägt und deshalb keine Couchgarnitur gewinnt.

  • Nummer 2: Der Bräutigam, der seine Braut auf Händen in die Bettenabteilung eines Kaufhauses trägt, um dort ein Ehebett zu kaufen, aber das Wort “Matratze” nicht aussprechen darf, weil sonst lauter irre Sachen passieren, worauf ihn der Verkäufer Mr. Verity (Eric Idle, mal wieder) entnervt hinweist. (“Everybody! Somebody said ‘mattress’ to Mister Lambert. TWICE!”)

  • Nummer 1: Natürlich eine Frauenrolle – und zwar die der mürrischen Kantinenwirtin, die dem einschwebenden(!)  Ehepaar (Idle, Chapman) gern ein Gericht mit “Spam” verkaufen würde, was Chapman ablehnt (“I don’t like Spam!”). Der folgende Dialog enthält so oft das Wort Spam, dass zunächst ein Wikingerchor anfängt zu singen. Sehr viel später bedient sich die Informatik des Terminus um damit unerwünschte Werbemails zu bezeichnen.

Thank you and rest in peace, Terry Jones. Two down, four to go.

 

Nachtrag vom 24. Januar: Wie konnte ich Arthur “Two Sheds” Jackson vergessen…

Und noch ein Nachtrag am 1. Februar: Die Pythons haben ein eigenes “Best of” veröffentlicht, das hier natürlich zwingend dazu gehört.

An Anne Franks 90. Geburtstag versucht man, mir ein leeres Tagebuch zu verkaufen…

Anne Franks (in diesem Jahr 90.) Geburtstag ist offensichtlich der “Tag des Tagebuchs”, was ich ja noch einigermaßen nachvollziehen kann. Erinnerungspolitisch und literaturhistorisch ist die Textsorte “Tagebuch” eng mit ihr verknüpft, sie ist sicher neben Plinius und Samuel Pepys eine der bedeutendsten Chronistinnen der Welt- und Literaturgeschichte und natürlich hat das etwas mit ihrem Schicksal zu tun. Ein Feiertag, der das Medium ehrt, dass dieses Schicksal einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat, das es also ermöglicht hat, dass man sich nach 1945 und hoffentlich noch lange damit beschäftigt hat und beschäftigen wird, geht vollkommen in Ordnung. Es würden einem mit etwas Nachdenken noch einige Werke und Autoren mehr einfallen, aber Anne Frank ist als “Datumsgeberin” die richtige Wahl.

Dass ich zu diesem Tag einen Sondernewsletter von Leuchtturm1917 in der Mailbox habe, lässt mich aber ein bisschen unschlüssig zurück. Ich mag den Laden, wohlgemerkt. Die machen super Schreibwaren. Und der Newsletter generell ist einer der angenehmeren.

Aber ist es angemessen, mir an Anne Franks 90. Geburtstag, ein leeres Tagebuch namens “Some Lines a Day” verkaufen zu wollen? Von Anne Frank ist in der Mail nicht die Rede. Aber wäre das besser oder schlechter? Ich weiß es wirklich nicht.

Nachtrag: Ebenfalls am 12. Juni geboren ist übrigens Wolfgang Herrndorf, der mit “Arbeit und Struktur” sicher auch in die Liste bemerkenswerter Tagebuchschreiber gehört…

Die Sache mit den Botschaften

Es ist keine so richtig gute Woche für den diplomatischen Dienst der USA. Zuerst sorgte Pete Hoekstra, frisch bestellter US-Botschafter in den Niederlanden, mit einem unglücklichen Auftritt bei seiner Antrittspressekonferenz für Aufsehen. Hoekstra wurde von der niederländischen Hauptstadtpresse wegen einer von ihm 2015 getätigten, falschen Äußerung über islamistischen Terror in den Niederlanden gegrillt.

► “Hier müssen Sie Fragen beantworten

Am Freitag entschuldigte sich Hoekstra und nahm die Äußerung zurück. Er habe damals “Länder verwechselt”, so der 64-jährige gebürtige Niederländer.

► “Ich habe Länder verwechselt”

Ebenfalls am Freitag dann die Nachricht: Donald Trump will nicht zur Eröffnung der neuen US-Botschaft in London kommen. Die sei zu teuer gewesen. Und der Preis, der für das alte Gebäude erzielt worden sei, zu niedrig. Schuld sei das, natürlich, Barack Obama. 

► Trump sagt Besuch in Großbritannien ab

Doch die Londoner Vertretung stellt klar: So war das gar nicht. Bereits 2007, also noch unter George W. Bush, habe man angefangen, zu verhandeln, um ein neues Grundstück zu bekommen. Das sei dann schließlich dank eines Grundstückstauschs einigermaßen kostenneutral über die Bühne gegangen.

► US-Botschaft widerspricht eigenem Präsidenten

Und als wäre das alles noch nicht genug, geht mit John D. Feeley auch noch der US-Botschafter in Panama von der Fahne. Begründung: Er könne unter einem Präsidenten Trump nicht mehr dienen. “Als junger Beamter im diplomatischen Dienst habe ich geschworen, dem Präsidenten und der Regierung unpolitisch zu dienen, auch wenn ich nicht mit Teilen ihrer Politik einverstanden sein sollte. Mir wurde klargemacht, dass es eine Frage der Ehre wäre, zu kündigen, wenn ich das nicht könnte. Dieser Zeitpunkt ist jetzt gekommen.”